Jan Patočka und die platonischen Grundlagen Europas

Dan Siserman, ”Jan Patocka und die platonischen Grundlagen Europas” in: Dan Siserman & Alin Tat, Spicilegium Philosophicum, Presa Universitară Clujeană, Cluj, 2022, pp. 343-370.

§ 1. Einleitung

Im Jahre 1973 hielt Jan Patočka (1907-1977) eine Reihe von Vorlesungen, welche später, nämlich 1979, unter dem Titel Platon und Europa1 erschienen sind. Wir sollen uns zuerst erinnern, dass damals, in den 70er Jahren, als Patočka diesen Text und die Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte2 (1975)schrieb, erlebten Osteuropa und besonderes Tschechien sehr schwierige Zeiten erlebt hat, die zahlreichen Motive und Probleme der Modernität zutage gebracht haben. Übrigens wird jener unruhige Hintergrund zum Textanfang in Anlehnung an Eugene Ionescos Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele (1972) beschwören. Demzufolge befinden wir uns in einer tiefen Ratlosigkeit und Bodenlosigkeit. Wenn bis im 19. Jahrhundert die Menschen noch ein fester Glaube hatten, der dem Leben einen Grund verlieh, gibt es dieser heutzutage nicht mehr. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen, wohin wir wollen, wir fühlen uns entfremdet und sogar Opfer der Geschichte. Das Einzige, was festbleibt und wächst, ist der Wille zur Macht. Und darin, in den unaufhörlich steigenden Willen zu Macht, sieht Ionesco und Patočka ein schrecklicher Verlauf in Richtung Abgrund und die Anerkennung des Niedergangs der Natur und des Menschen.3

Wollen wir die Wurzeln unseres heutigen Ungleichgewichts begreifen, dann sollten wir zunächst die Ursprünge Europas erfassen. Ausgehend von diesen Anfängen wird sich die Stelle des Menschen in der Welt neu erleuchten.4 Das heißt wohl, die Wurzel und Grundlagen Europas philosophisch zu überdenken, denn wenn es überhaupt noch eine Rettungschance gibt, dann ist es die Philosophie: „Philosophical reflection ought to have a different purpose, it should somehow help us in the distress in which we are; precisely in the situation in which we are placed, philosophy is to be a matter of inner conduct”.5

§ 2. Das Projekt Europa

Wann ist dann der Geist Europas zustande gekommen? Patočkas Antwort lautet: „Europe came into existence upon the wreckage, first of the Greek polis, and then of the Roman Empire”6,also als der Sinn des Lebens und der Welt fraglich geworden ist. Deswegen argumentiert Patočka, dass die Entstehung des Geistes Europas paradoxerweise hauptsächlich mit Sokrates und mit Platons Projekt des idealen Staates angefangen hat. Somit befinden wir uns ganz vom Anfang an vor einer Unmenge Fragen und Problemen: Was für eine Rolle spielt Sokrates sachgemäß in Platons Darstellung? Welche Beziehung besteht zwischen dem traditionellen Nomos des Mythos und dem modernen philosophischen Nomos in Platons Projekt des Staates? Wie könnte dieses Projekt die Idee „Europa“ begründen?

Bevor ich aber die Argumentation Patočkas darstelle, möchte ich die zwei wichtigsten Einwände erinnern, die sich gegen die Idee erhoben haben, wonach Platon einen Stichpunkt des europäischen politischen Denkens wäre. Der erste Einwand stammt von Karl Popper, der im ersten Band seines Buches Die offene Gesellschaft und ihre Feinde: Der Zauber Platons (1945) formuliert wurde. Demzufolge vertritt Popper die These, dass Platons philosophische Politik einen beispielhaften Fall des Historizismus darstellt – d.h. die Vorstellung einer geschichtlichen Notwendigkeit, welche die Zukunft voraussagen und somit alles kontrollieren lässt. Wie die anderen Historizismen, wie z.B. Nationalsozialismus und Kommunismus, oder die Philosophien des Marx und Hegel, zeichnet sich auch Platons philosophische Politik durch folgende Merkmale: Imobilität (Reflexion der unveränderlichen Ideen), Rückgang (in den Urzustand vor dem Fall, wo die weise Minderheit die unwissende Mehrheit dominiert), die absolute Segregation sozialer Schichten (da die Tatzustanden unüberschreitbar sind), die ausschließliche Fokussierung auf die herrschende Klasse, die die absolute Kontrolle über die Bildung und Erziehung ihrer Mitgliedern ausübt, sodass dem Einzelnen kein Privatleben und Freiheit übrigbleibt. Das einzig Wichtige ist der Staat. Kurz gesagt, Platon projiziert eine verführerische und subtile Apologie – und eben darum, gefährliche – des Totalitarismus.7

Der zweite Einwand, den ich erwähnen will, wurde von Denis de Rougemont in seinem bekannten Text L’Aventure occidentale de l ’homme (1957) zum Ausdruck gebracht. Für ihn, ist „das Projekt Europa” auf der Basis grundlegender Entscheidungen, die innerhalb des Christentums getroffen sind, aufgebaut worden. Diese grundlegenden Entscheidungen wurden während der ökumenischen Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts getroffen: 1. Die materielle Welt wurde gewürdigt (aufgrund des christlichen Dogmas der Menschwerdung Gottes); 2. Die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen wurden hervorgehoben (aufgrund des trinitarischen Dogmas); 3. Die Würdigung der Geschichte als messianische und daher als unwiederholbare Zeit (aufgrund des Dogmas der Menschwerdung Gottes und der Erfüllungszeit).8 Die Idee, dass der Ursprung Europas in den Ökumenischen Konzilien begründet ist, wird auch von dem rumänischen Philosophen Constantin Noica geteilt: die Geburt der europäischen Kultur vollzog sich durch einen kategorischen Bruch – „Es ist in erster Linie ein Bruch mit der Natur, in zweiter Linie mit der in gewohnter Weise erkennenden Vernunft und in letzter Linie mir der Antike. Und zwar wird sie geboren im Jahren 325 unserer Zeitrechnung, zu Nicäa”.9 Wie wir sehen, sind alle drei christlichen Postulaten, die den Verlauf der Geschichte Europas bestimmt haben, ganz und gar antiplatonisch, sodass Nietzsches Behauptung, wonach Christentum Platonismus für das Volk wäre, sich als ein einfacher Witz erweist.

Zusammen behaupten die zwei Einwände ausdrücklich die Unvereinbarkeit zwischen Platons politischen Denken und Europas konkreten Schicksal: auf der einen Seite, weil Platons politische Philosophie die Etablierung eines totalitären Staates darstellt (Popper) und auf der anderen Seite, weil an der Basis Europa andere Gedanken und Ideen rühren, die mit der platonischen Philosophie nichts gemeinsam haben (de Rougemont).

Wie kann Patočka vor diesen Einwänden noch behaupten, dass Platon der eigentlichen Begründer des „Projektes Europa” ist? Obwohl Patočkas Antwort einfach zu sein schein, ist sie in der Tat eher rätselhaft: „The grand philosophical project, that is the state of justice, where those like Socrates can live and do not need to only die. […] Here, after all, are laid the first foundation of human thinking about the state and about the justice. This thinking about the state and justice comes into reality, after all, it is built together by later communities, it is built together in the Roman effort to turn itself into the state of right. And when it is not successful, it is created in the other efforts, so that the state will be only under the light of justice and truth that is not of this world. But this is already the story of the historical construction that we call Europe. It grew out of this”.10

Daher fragen wir uns, warum Sokrates sterben musste und was das mit dem Projekt Europa zu tun hatte? Um das beantworten zu können, sollen wir zunächst ein zentrales Thema in Patočkas Denken in Betracht ziehen, nämlich das Problem des Anfangs der Geschichte.

§ 3. Der Anfang der Geschichte und die Bewegungen des menschlichen Lebens

Ein wichtiger Punkt in Jan Patočkas Analyse Europas, dreht sich um den Anfang der Geschichte. Wie Filip Karfik in seinem Essay Jan Patočkas Philosophie der Geschichte bereits anmerkte, spricht Patočka in diesem Zusammenhang über zwei Grundtypen von Lebenswelten: die Welt des vorgeschichtlichen Menschseins und die Geschichte im eigentlichen Sinne.11 Was ist unter dem Begriff der Welt des vorgeschichtlichen Menschseins zu verstehen? Karfik zufolge, beschreibt Patočka in seinem Werk Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte zwei Merkmale, die die vorgeschichtliche Lebenswelt kennzeichnen: „Das eine betrifft das Verhältnis des Menschen zum absoluten Sinn, das andere dann das Verhältnis zwischen dem Seienden und dem Sein. Beides hängt eng zusammen, und beides kommt auch in der auffälligsten Eigenart der vorgeschichtlichen Welt zum Ausdruck, nämlich in der Allgegenwart der Götter, die überall diese Welt gebieten”.12

Das bedeutet, dass Jan Patočka unter dem Begriff der vorgeschichtlichen Lebenswelt sowohl alle sog. Naturvölker als auch die vor- und außengriechischen Kulturen erfasst. Das Leben in solchen Kulturen kann nicht über den Haushalt und dessen Zyklen von Geburt, Zeugung und Lebenssicherung durch ständige Arbeit und Produktion hinausreichen. Das Leben in diesen vorgeschichtlichen Gesellschaften wird durch die Herrschaft der Götter über das menschliche Leben und das Universum im Ganzen gekennzeichnet, welche zugleich einen festen und unbestreitbaren Sinn gewährleisten, woraus jeder Einzelsinn seine Sinnhaftigkeit herleitet.13 Daher können wir über eine Welt sprechen, wo man einen gebotenen und unzweifelhaften Lebenssinn vorfindet, wobei jedoch der Schwerpunkt des Sinnesbezuges keineswegs in dem menschlichen Leben liegt, wohl aber im Leben der unsterblichen Götter.14 Oder wie Patočka es selbst ausdrückt, die vorgeschichtliche Lebenswelt ist „eine Welt vor der Fraglichkeit“, welche zugleich die Welt eines gegebenen, zwar bescheidenen, aber zuverlässigen Sinns ist.15 Und diese Welt hat einen Sinn, weil das menschliche Leben im Hinblick auf das Höhere gerichtet wird, nämlich den Mythos, welcher ohne Bedenken angenommen wird. All dies entspricht den ersten zwei fundamentalen Bewegungen der menschlichen Existenz: die Bewegung der Annahme und die Bewegung der Verteidigung.

Der Begriff der Bewegung des menschlichen Lebens, wie Domenico Jervolino wohl gemerkt hat, setzt sowohl eine Wiederaneignung des Aristotelischen Begriffs der kinesis, als auch eine phänomenologische Analyse der Zeitlichkeit und Räumlichkeit voraus.16 Und wie Filip Karfik behauptet, vollzieht Patočka dadurch seine eigene phänomenologische Leistung und macht damit einen Schritt über die heideggersche Ontologie der Phänomenalität hinaus zu einer konkreten ontologischen Phänomenologie des menschlichen Lebens.17 Die erste Bewegung, die der Annahme oder des Akzeptierens, so Patočka, „gründet darauf, dass der Mensch in die Welt aufgenommen und eingeführt werden muss, dass sein Eintritt in den Bereich des offenen, individuellen Seienden durch Vorbereitung und wechselseitige Fügung (harmonia) bestimmt ist”.18 Das heißt, dass die Fügung des Menschen sich hier nicht als mechanische Anpassung (wie bei den anderen Seienden der Fall ist) vollzieht, sondern als Integrierung in die Gemeinschaft. Hier wird an das alte Diktum Anaximandros erinnert „einender Recht tun und Unrecht ausmerzen”, wobei „Adikia ist der ursprüngliche Schlüssel zum Verstehen, mittels dessen sich ein Wesen zum Blitz der Individuation, zum Eintritt ins All stellt, und diese von ihm empfundene Adikia – als ein Eindringen, ein Einbruch – wird von den anderen widergutgemacht, welche das Wesen annehmen und ihm die Welt zu jenem warmen und freundlichen Herd machen, der die Erhaltung des Lebensfeuers bedeutet”.19

Die zweite Bewegung, die der Verteidigung, oder der Selbstaufgabe steht demzufolge in unmittelbarer Korrelation zur ersten Bewegung. Diese fundamentale Bewegung der menschlichen Existenz vollzieht sich, indem wir uns selbst preisgeben, indem wir uns um die Bedürfnisse des Nächsten nicht weniger kümmern als um die eigenen und indem wir arbeiten – wobei die Arbeit die Verfügung über uns selbst und zugleich Verfügung der anderen über uns ist.20 Aber die Arbeit, wie Patočka in seinem ersten Essay Von der natürlichen Welt zum Problem der Geschichte meint, steht im Gegensatz zum tierischen Leben mit der Fraglichkeit in einer engen Beziehung. Kurz gesagt, die Arbeit lässt unsere Freiheit fühlen. Darin liegt die phänomenologische Bedeutung der Arbeit: sie bringt uns in Berührung mit der Möglichkeit der Fraglichkeit des Ganzen des Lebens überhaupt und zugleich verdunkelt und verwehrt sie die Sicht auf sich selbst.21

Diese zwei fundamentalen Bewegungen, diejenige der Annahme bzw. der Verteidigung vollziehen sich aber am deutlichsten durch den Mythos, welcher an die Grenze der dritten Bewegung, diejenige der Wahrheit, stoßt, zugleich aber sie unterordnet. Es ist somit bezeichnend für den vorgeschichtlichen Menschen, dass er sein Leben durch eine Art ontologische Metapher versteht, d.h., dass für den an den Lebenserhalt gebundenen Seienden und Sein, die Phänomene und die Bewegung ihrer Erscheinung auf eine Ebene zusammenfallen. Der mythische Mensch unterscheidet also weder die übertragene von der übertragenden Ebene, noch unterscheidet er zwischen der Bedeutung vom Gegenstand und dem Gegenstand selbst, noch zwischen der Rede und dem, wovon die Rede geht, sodass die Welt tatsächlich „voll von Göttern und Mächten ist”. So ist in dieser Hinsicht die folgende Konklusion zu ziehen: „In der Welt der Seienden manifestiert sich die Gegenwart des Seins, das man al Höheres, Inkommensurables, Übergeordnetes versteht, das aber doch nicht als solches klar ist, sondern mit dem Seienden denselben Bereich der einen Welt teilt, in der sich alles gleichermaßen zeigt und verbirgt – auf ununterscheidbare Weise”.22

Tiefer betrachtet hängt diese ontologische Verschiebung hängt wesentlich mit der Sinnfrage zusammen, was bedeutet, dass für den vorgeschichtlichen Menschen die Gottheiten es sind, welche den Sinn des Alls gewährleisten, weil sie dieser Sinn selbst sind.23 Aber die Möglichkeit der dritten Bewegung, die der Wahrheit oder des Offenbarwerdens, welche sich durch die Erschütterung des akzeptierten Sinns und die damit einhergehende Eröffnung der Möglichkeit eines echten Lebens vollzieht, schwebt über den vorgeschichtlichen Menschen hinauf, obwohl er anständig ausschlägt. Das akzeptierte Leben kennt aber in der griechischen Polis letztendlich eine radikale Sinnkrise, welche zur Entdeckung des Seins als solchen führt, die den Menschen vor der Verantwortung eines authentischen Lebens gegenüberstellt. Die Erschütterung als Vollziehung der Bewegung der Wahrheit wird von Patočka sehr ausdruckvoll beschrieben:

„Dadurch, dass sich dem Menschen die Möglichkeit des echten Lebens, das heißt das Ganze des Lebens gezeigt hat, hat sich ihm erstmals auch die Welt geöffnet – die Welt ist nicht mehr nur der indifferente Hintergrund, vor dem sich das zeigt, was uns fesselt, sondern ist jetzt (erst) imstande, sich selbst zu zeigen – als das Ganze dessen, was sich vor dem schwarzen Hintergrund der geschlossenen Nach auftut. Dieses Ganze spricht nun unmittelbar zum Menschen, ohne dämpfende Mythen und Traditionen, es will nur von ihm persönlich angenommen und verantwortet werden. Nichts von dem bisherigen Leben der Annahme bleibt davon unberührt, die Traditionen und Mythen, all die Antworten, von denen die Fragen immer schon verstellt sind, dieser ganze bescheidene, aber gesicherte und beruhigende Sinn verändert, ohne freilich zu verschwinden, seine Gestalt: Er wird fraglich, er wird etwas, das ebenso rätselhaft ist wie alles andere – der Mensch hört auf, mit ihm identisch zu sein, der Mythos kommt ihm nicht mehr über die Lippen; in dem Moment, in dem sich das Leben erneuert, steht alles in einem neuen Licht – dem Freien fällt es wie Schuppen von den Augen, aber nicht in dem Sinne, dass er neue Dinge sähe, vielmehr sieht er neu: die Dinge sind da wie eine vom Blitz erhellte nächtliche Landschaft, in der er allein steht, ohne Stütze und nur auf das verwiesen, was sich ihm zeigt, und was sich ihm zeigt, ist alles, ohne Ausnahme. Das ist der Augenblick der schöpferischen Dämmerung, der erste „Schöpfungstag”, rätselhaft und umso eindringlicher dadurch, dass er den Staunenden umfängt, in sich aufnimmt und mit sich fortträgt”.24

Mit dem Aufbruch der Fraglichkeit, welche nicht diese oder jene Seiende betrifft, sondern das Ganze überhaupt, hat sich der Mensch auf einen langen und nie zuvor betretenen Weg begeben: der Weg der Geschichte, welche zugleich die Entstehung des politischen und des philosophischen Lebens bedeutete. Ab diesem Punkt ist für den Philosophen die Welt – als Totalität des Wirklichen – nicht mehr von vornherein gegeben – d.h. in der Erzählung des Mythos gespeichert, deren wesentliche Eigenschaft darin bestand, einfach sie als Antwort zu wissen bzw. zu besitzen. Dagegen offenbart sich die Welt durch das Gemüt des Staunens und der Infragestellung in den sie uns versetzt. Für den Philosophen gehört der Sinn des Ganzen der Welt nicht mehr, wie für den vorgeschichtlichen Menschen der Welt des Mythos, einer starren Klarheit, die jenseits des menschlichen Vermögens liegt und einfach anzuerkennen ist. Für ihn stellt nun der Sinn des Ganzen der Welt ein Problem dar, welche sein ganzes Engagement verlangt. Das heißt, dass dem Philosophen die Aufgabe zukommt, über die Manifestation des einzelnen Seienden hinauszugreifen und die Manifestation des Ganzen zu fassen.25

Was nun die Philosophie bringt, ist nicht die Unterdrückung des Mythos, sondern die Änderung des Verhältnisses gegenüber der erfassten Realität. Indem der Mythos den Sinn des Ganzen nur als etwas schon bereits Gegebenes hervorrief, unter dem Drang der Fraglichkeit wird der geschichtliche Mensch durch die Philosophie letztendlich für den Sinn des Ganzen verfügbar und geöffnet. Diese spannende Offenheit für die Fraglichkeit wird von nun an die Haupteigenschaft des geschichtlichen Menschen: die Sorge um die Seele.

§ 4. Die Sorge für die Seele

Die Seele – die Eigenschaft des Menschen der Welt als Ganzes fraglich zu öffnen – ist das menschliche Gegenstück der Ewigkeit und ihren göttlichen Anteil, sodass die Philosophie, von da an, Sorge um die Seele geworden ist. Seitdem kann der Mensch nur in dem Maße ein authentisches Dasein werden, indem er die problematische Dimension der Welt wahrnimmt und sich selbst dadurch verantwortlich und frei verwirklicht.26

Wie wir schon von den Vorsokratikern wissen, war die fundamentalste Tatsache der Anfänge des philosophischen Denkens eben die gleichzeitige Anwesenheit des Enthüllens und Verbergens. Wie artikulieren sich die beiden? Wie erklärt sich die Koexistenz von Vielheit und Einheit und von Vergänglichkeit und Ewigkeit? Was aber klar wurde, war die Tatsache, dass die Seele der Artikulationspunkt beider Dimensionen darstellt. Auf der einen Seite soll sich die Seele auf Ewigkeit und Unvergänglichkeit entsprechen, und auf der anderen Seite, soll sie die Verantwortung für die unmittelbare Nähe des Lebens übernehmen. Da das Wissen nicht ein einfaches abstraktes Spiel ist, soll sich die Seele verantwortlich an die Welt wenden, um sie als Totalität zu übernehmen. So ist das Wissen die Modalität in der die zwei Dimensionen der Offenbarung – der konkreten Seienden und der Totalität der Welt – sich zusammenfügen und schließlich, die Modalität der Selbstverwirklichung der Seele: „We do not care about the soul in order to understand, but rather we understand so that the soul will become what it is not yet completely, what it can be!“27 Wie schon behauptet, all das hatte für den Griechen den Ausgangpunkt nicht in einem einfach abstrakten Spiel der Philosophen, sondern ganz und gar in der konkreten, umgebenden Realität – denn es war Teil des Lebens in der Polis. Die Perserkriege haben die zwei unterschiedlichen Modalitäten des In-der-Welt-Seins deutlich gemacht: auf der einen Seite das orientalische Prinzip der großen, zentralisierten Macht, und auf der anderen Seite das griechische Prinzip der Freiheit und Selbstbestimmung. Das Problem, welches sich für den griechischen Menschen erhebt, bestand von da an, in seiner Option für die Freiheit und ihre Begründung. Und dafür hatte er entweder die Möglichkeit des Mythos oder die verantwortliche Bereitschaft, die Welt in ihrer Manifestation als Ganzes anzuschauen. Dies ist der Kontext des Auftretens Sokrates. Und deswegen, weil er ausgerechnet in diesem Kontext erscheint, kommt er den Mitbürgern dermaßen ungewöhnlich vor. Was Patočka besond eres merkwürdig findet ist das, dass Sokrates ein echter Angelpunkt in der Geschichte darstellt: Träger einer göttlichen Botschaft (und damit an den Mythos verbunden), gibt er diese Botschaft auf eine einzigartige Weise wieder: „the incredible paradox of Socrates’ actions is that he fights with present means against another present, with what is given against another given. He tries to prove never before formulates paradoxical theses, implicated in traditional life but never formulated there”.28 Also, wie Platon selbst behauptete, ist die sokratische Untersuchung nichts anderes als Sorge für die Seele:

„Only through it does the soul become what it can be – harmonious, not in contradiction, no longer running the risk of shattering into contradictory pieces, thus finally joining something that endures, that is solid. After all, everything has to be founded upon what is solid. This is the basis of our acting morally, and this is also the foundation of thought, for only thinking that shows what is solid, stable, shows what is”.29

Dies bedeutet aber anders als die anderen zu tun, und sich damit der Verurteilungen der Mitbürger auszusetzen. Wenn Sokrates seine Mission als göttlicher Auftrag versteht, wird er von seinen Mitbürgern wegen Gottlosigkeit verurteilt. Solange Sokrates lebt, stellt er eine Mahnung für den Mitbürgern dar, die die Gesellschaft vor der Drohung der totalitären Starrheit der mythischen Archetypen schützt. Somit ist die Beseitigung Sokrates aus der Polis nicht ein einfaches soziales Ereignis, sondern der Ausdruck einer generalisierten Blindheit, was schließlich zum Zusammenbruch der Gesellschaft führen wird. Auf der anderen Seite bleibt aber die Erscheinung Sokrates – einschließlich in seiner Haltung gegenüber dem Tod – von ungeheurer Bedeutung. Denn seine Nachfolger – insbesondere Platon – haben seine Haltung übernommen und weiter thematisiert: „Socrates leaves a heritage. Socrates did not help himself, but he helps others […] in a philosophical way, through the outline of a city, where the philosopher can live, where the man who is to care for the soul can live, the man is to carry out the philosophical thought that it is necessary to live and think on the basis of looking-in”.30

Die Erbe Sokrates besteht also in der Bemühung, solche eine Stadt zu schaffen, wo die Leute nicht wie er sterben müssen. Dieses Unternehmen hat nun drei Aspekte: ein Projekt über die Wahrheit und das Ganze des Seienden; ein Projekt über die Gemeinschaft; und eine tiefere Erforschung der menschlichen Seele, was ihr Wessen und ihre Fähigkeit ist. In einem Essay aus dem Jahr 1939, Der geistige Mensch und der Intellektuelle, nimmt Patocka wieder Sokrates als das Vorbild überhaupt, indem er zeigt, was für geschichtliche Nachwirkungen die Erscheinung Sokrates zutage gebracht hat:

„In der klassischen Periode dann, in der Sokrates das Vorbild ist, die grenzenlosen Anstrengungen Platons, aus der Suche selbst das abzuleiten, was gefunden wurde; in dieser Suche eine feste Grundlage zu finden, in ihren neuen Boden unter die Füße zu bekommen – in der Metaphysik. Die Unsicherheit der Welt um uns herum, die enthüllt ist, führt Platon zur Einsicht in das, aufgrund dessen sich mir erst die Unsicherheit der Dinge um mich herum öffnet, zu der Einsicht, dass es hier kein Maß gibt: Das Maß ist dann nach Platon das wahrhafte Seiende. Dieser Versuch, auf der Suche auf einen neuen festen Boden zu springen, wird dann für Jahrtausende zu einem übergroßen Vorbild und zu einer Versuchung zugleich”.31

Die Schaffung einer gerechten Welt, welche in der Wahrheit gegründet sein soll, stellt die Erbe Sokrates dar, das Werk Platons und schließlich, das Projekt Europa: „This heritage goes all the way back to the Greeks, especially to Plato, because when mankind and its new form tried to bring the city of justice into reality, a city to be founded not on the changeability of human things as Rome was, but rather on absolute truth, so that it would be the kingdom of God upon earth, then the guiding thought of this other kingdom, this other world, which is the world of real truth, is after all Plato’s thought”.32

Nach Patočkas Auffassung, trotz aller Einflüsse, die das Europa gestaltet haben – wie die jüdisch-christliche Tradition, die Kultur des Altertums, die großen geographischen Entdeckungen, usw. – steht Europa nur auf einem Pfeiler: die sokratisch-platonische Sorge für die Seele: „And that is because Europe is a looking-in, Europe is life founded upon seeing what is”.33 In dieser Hinsicht hat die sokratisch-platonische Gesinnung sogar den Raum für die Entstehung des Christentums geschaffen. Denn der Gedanke an eine andere Welt – eine der Wahrheit, der Gutheit und Göttlichkeit – tritt zum ersten Mal bei Platon auf.

Was bedeutet das eigentlich für das Leben? Wie vollzieht sich die Sorge für die Seele? Indem wir das ursprüngliche Erstaunen in Form von Fraglichkeit weiter erhalten. Die Fraglichkeit vollzieht sich wiederum in Form von Dialog mit sich selbst und mit den anderen. Und was wirklich im Dialog zählt, ist nicht das Primat des letzten Wortes, sondern die ständige Bemühung um einen offenen Dialog für das, was erst während seiner Durchführung verständlich und einsehbar wird: die Wahrheit. Der Dialog ist eine Form der Epoche, der die unmittelbar gegebene Antwort aufhebt, um tiefer in das Wesen der Dinge einzudringen. Das heißt, dass der philosophische Dialog nicht nur die Methode eines einzigen Philosophen darstellt, sondern das Paradigma innerhalb dessen sich die ganze Philosophie bewegt. Die Durchführung der vor der Welt als Ganzes wird von nun an die Aufgabe der Sorge für die Seele, und somit die Aufgabe des ganzen abendländischen Denkens. Was die weitere Selbstbildung der Seele ausgehend von der Problematisierung des Erstaunens angeht, behauptet Patočka:

„This means that this soul turned the experience that it does not know, the experience of knowing it’s not knowing, into experience about its own being. At the same time, it also experienced that it is brave because it exposes itself to problematization, that it is wise in knowing not knowing in the form of temperate and disciplined investigating, because it submits all other human affairs to this thinking struggle. […] Here a schism opens up. The regular, natural, naive contact with people and things is uncertain, inexact, shaky, unawares, full of contradiction and not unified – it is sunk into semblance, δόξα (opinion/appearance). Care of the soul then, discovers both: δόξα as well the unitary ideal. It discovers the irreconcilable as well the permanent, the passing as well as the precise – both discoveries are equally fundamental. The care of the soul is, simultaneously then, the discovering of two fundamental possibilities of the soul. Within these fundamental possibilities is simultaneously the discovery of two regions in which the soul moves about”.34

Wir sehen am Ende dieser Darstellung wieder ein, welche Neuigkeit die Philosophie in Bezug auf den Mythos bringt. In beiden Fällen geht es um das Bewusstsein der Existenz von zwei unterschiedlichen Regionen der Welt, die obzwar durchgedrungen sind. Was sich aber ändert, ist eben das Verhältnis des Menschen zu ihnen. Für den Menschen der mythischen Welt stand das Verbot des Übergangs auf der anderen Seite der Welt unter dem Zeichen des unvermeidlichen Schicksals. Daher wird das Überschreiten der transzendentalen Grenzen der Welt als Hybris (ὕβρις)definiert und ruft die göttliche Sanktion. Für den Menschen der geschichtlichen Welt hingegen, ist der Übergang auf der anderen Seite nicht nur möglich, sondern sogar notwendig und dringend. Diese Aufforderung hängt damit zusammen, dass für ihn, der Vermittler zwischen den zwei Bereichen des Seins entdeckt wurde: die Seele.

Die Sorge für die Seele bedeutet letztendlich Sorgfalt, Offenheit und Verantwortung. Allerdings sind all diese Tugenden nicht nur persönlich und individuell, sondern auch öffentliche Tugenden. Hier zeigt Platon, so Patočka, dass in dieser Hinsicht die Sorge für die Seele, das heißt die Selbstbildung der Seele, sich in einer dreifachen Weise manifestiert. Erstens setzt diese Selbstbildung eine onto-kosmologische Fundierung voraus, d.h. eine Verständigung, wie die Welt sich als Ganzes offenbart. Zweitens geht es um die Stiftung einer Gemeinschaft, die auf dem Konflikt dieser beiden Weisen des Lebens gegründet ist. Und drittens geht es um die Beziehung zwischen Seele und Leib und das Problem von Tod und Unsterblichkeit. Demzufolge drückt sich die Sorge für die Seele in den Brennpunkt der drei Richtungen und erweist sich somit als „the ideal of philosophy as living in truth“.35 Die Perspektive der Wahrheit und einer Welt der Wahrheit, ist das, was dem menschlichen Leben Inhalt und Sinn verleiht.

§ 5. Das mathematische Modell und die Seele

Es scheint, als ob über die sogenannte „platonische Welt der Ideen“ die Rede wäre. Für den modernen Menschen werden die platonischen Ideen entweder als allgemeine Begriffe verstanden, oder als zeitlose Sachen, die den Änderungen der diesseitigen Welt nicht unterworfen sind. Beide Perspektiven haben ihre Legitimität, obwohl sie auf einen modernen Jargon (d.h. objektivieren) das reduziert, was vor jeder Objektivierung gedacht wurde. In dieser Hinsicht, so Patočka, wird uns eine kleine mathematische Erörterung zu verstehen helfen. Wir erinnern uns daran, dass das Eintreten in die Akademie von der Erkenntnis der Geometrie bedingt war. Wir erinnern uns auch daran, dass Platons Spätdenken von der Tendenz charakterisiert wurde, die Ideen als Zahlen zu betrachten. Das bedeutet aber auch, dass für den damaligen Menschen, die Zahlen viel mehr Bedeutung hatten als für den Modernen. Warum? Weil es für die damalige Geometrie das zentrale Problem dasjenige der Beziehungen zwischen den kommensurablen und inkommensurablen Größen, und der Beziehung zwischen der Unbestimmtheit der Teilung und die Limitationen der Bemessung (z.B. Zenons Paradoxien) war. Das Problem der Mathematik und Zahlen bestand nicht in ihren abstrakten und zeitlosen Charakter, sondern in der Beziehung zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit, und Unbegrenztheit und Begrenztheit. In dieser Hinsicht, „the ideas are nothing but the first relations, original relations between this couple: between indeterminacy and unity”.36 Die Mathematik ist für den griechischen Philosophen gleichermaßen die Vermittlung zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Welt und eine praktische Anwendung der Sorge für Seele. Wie die Seele gehört auch die Mathematik dem Bereich der Innerlichkeit: sie seht uns nicht unmittelbar zugänglich, offenbart sich aber erst in der Weise, in dem wir die Äußerlichkeit rechnen, beziehungsweise die Natur thematisieren. Aber wenn die Dinge relativ einfach in der Mathematik sind, ergeben sich die Probleme erst wenn es um das Verhältnis zu der ändernden Welt der Menschen und der Natur geht.

Insofern ist die Praxis der Philosophie nicht nur eine Technik des Denkens, sondern eine Bewegung des Aufstiegs der Seele und damit eine Imprägnierung der Seele mit dem, wonach sie strebt. Und die Seele strebt von Natur aus nach der Wahrheit des Seins. Und wie Platon diese Problematik entwickelt, bezeichnet im Wesentlichen die zweite Geburt der Philosophie und eines der aufregendsten Momente in der Geschichte des Denkens:

„To be is not an obvious thing; it presupposes some kind of measure, and measure is something essentially different from the measured. This is something each measure encompasses within itself. We can measure things only because they are imprecise, and measures are precise. As a result, measures are something essentially different from what is measured by them. […] In addition to the fundamental thought – than what is around us is in its own being measured by something not on the same level as things that are measured – is Plato’s great systematical thought that mathematics is the model according to which something like a systematic of measurements and the measured can be developed”.37

Diese Hierarchie, welcher unterschiedliche Graden der Intelligibilität entspricht, ist somit eine Hierarchie des Wissens. Da aber zwischen Denken und Sein eine wesenhafte Beziehung besteht, ist diese Hierarchie auch eine Hierarchie des Seins. In dieser Hinsicht können wir zu Recht behaupten, dass die Mathematik das Modell des hierarchischen Aufbaus des Seins anbietet. An der Spitze dieser Hierarchie befindet sich das Eine – das einigende Prinzip, kraft dessen alles, was existiert, als Einheit gedacht werden kann. Außerdem muss es ein zweites Prinzip geben (die unbestimmte Zweiheit), dass die Vielheit ermöglicht. Zwischen den zwei Prinzipien befinden sich die Zahlen – „who are the result of the mutual penetrating of the One and the multiplying principle”.38 Das Prinzip der Bewegung erscheint aber erst auf die nächste Ebene, nämlich auf der Ebene der Seele. Die spezifische Tätigkeit der Seele ist aber das Denken, welches sich durch eine konstante Kreisbewegung vollzieht: vom Subjekt (die Seele) zum Objekt (die unbeständige und unbestimmte Welt) und wieder zurück. Der ganze Gedankengang – d.h. die Praxis der Seele – bezeichnet einen Vorgang des Wieder-Eins-Werdens mit sich selbst. Deshalb bedeutet die Sorge für die Seele „eins mit sich selbst“ zu sein. All dies wird im fünften Essay seiner Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte zusammengefasst:

„Deswegen ist diese Ontologie eine Philosophie der Seele, die erst durch die Einsicht in den Unterschied zwischen dem echten, transzendenten, seinem Seinscharakter nach ewig unbewegten Seienden und der Wirklichkeit unserer bloß vorübergehenden, wechselnden Meinungen jenen einheitlichen Kern gewinnt, der dem Druck der dem Druck der verschiedensten Fragen und Problematiken, von denen die Seele sonst hin- und her- gerissen würde, standhalten kann. Das Wesen der Seele ist Einheit, und die Einheit erreicht man durch das Denken, durch den inneren Dialog, durch die Dialektik, die die eigentliche Methode der Einsicht und das Wesen des Verstandes ist. Von daher ist offensichtlich, dass die Philosophie gleichzeitig Sorge um die Seele, Ontologie und Theologie sein muss und dass sie das alles in der Sorge um die Gemeinde, um den besten Staat ist”.39

Wenn auf kosmologischer Ebene die mathematische Projektion der Ideen die Struktur der Welt verständlich macht, was passiert nun auf menschlicher Ebene? Genauer gefragt, welche Idee artikuliert das Leben in der Polis? Platon zufolge, die Idee der Gerechtigkeit ist diejenige Idee, welche das Leben in der Polis überhaupt ermöglicht: „in the community that is administered as it should be, justice rules. But this justice should not be apparent justice, meaning justice for the exterior, justice for the consequences of justice; rather, it should be justice for the sake of justice, because it is understood that justice is something good and right”.40 Und weiter, so Patočka, „in the conception of the care of the soul is encompassed something like the ideal of the truthful life, that is a life that, as much as in praxis as in its activity of thinking, always directs itself by looking-in”.41 Eine solche Auffassung der Gerechtigkeit steht offensichtlich mit dem herkömmlichen und utilitaristischen Gemeinsinn in einem grundsätzlichen Konflikt.

§ 6. Die Gerechtigkeit und der Staat

Wie bereits erwähnt, ist diese Auffassung nicht einfach das Ergebnis der spekulativen Stimmung Platons, sondern einer Krise des Denkens, welche die Kluft zwischen dem Schicksal des Philosophen und dem Polis-leben sichtbar macht: nämlich der Tod des Sokrates. Der Gerechte wird ungerecht verurteilt, dem Bote Apollos wird die Ungläubigkeit verworfen, und die Kompetenz wird das Vorrecht der Menge und die Freiheit eine Verkleidung der Tyrannei – dies ist die Gemeinschaft, in der nach dem Tod Sokrates, wird der Philosoph zum Fremden in dem Sinne, dass der Philosoph immer in Gefahr ist. Von nun an, identifiziert sich der Philosoph nicht mehr mit irgendwelchen Städten Griechenlands, sondern mit dem Entwurf einer besseren Welt, in der der Philosoph leben kann und die philosophische Tätigkeit der Selbstbildung möglich ist. Es ist somit offensichtlich, dass eine Verschiebung der Kondition des Philosophen in Bezug auf die Gemeinschaft stattgefunden hat: Während am Anfang war der Philosoph ein integraler Bestandteil der Gemeinschaft, indem er sogar Gesetzgebungsbefugnisse hatte, liegt nun der Philosoph am Rande, indem er über die Struktur und Sinn der Gemeinschaft nachdenkt. Über die Prinzipien der Gemeinschaft und der Staat nachzudenken, bedeutet für Platon keine einfache Tätigkeit – die in einer reinen Staatslehre mündet –, sondern eine Weise, um für die Seele zu sorgen:

„The state, as Platon describes it, is only a specific pretext, a specific impetus to develop and treat the problem of the soul. We do not know the soul, we cannot know the soul, because it is something invisible after all, something with which we do not come into contact the way we do with other things. And that is the reason why, in his considerations about justice as the fitness of the soul, which opens his treatment of the problem of the state, Plato introduces this connection to political life in context of the state”.42

Anderswo drückt sich Patočka in dieser Hinsicht in der Folgenden Weise:

„Sokrates und Platon waren Problematisierer des Lebens, Leute, die die Wirklichkeit nicht so annahmen, wie sie sich gibt, sondern sie durch eine Erschütterung sahen – aber ihre Konsequenz aus dieser Erschütterung war gerade die, dass irgendein besonderes, anderes Leben möglich ist, eine andere Richtung des Lebens, etwas wie ein neuer Boden, auf dem erst möglich ist zu ermessen, was ist und was nicht. Sie waren davon überzeugt, dass sie die naive und banale Wirklichkeit zum Kampf herausforderten. […] Einer der Gründe, warum wir immer mit solcher Spannung Platons Werke – besonderes die Politeia – lesen, ist der, dass dort die Beziehung des geistigen Menschen zum gesellschaftlichen Ganzen in gewisser Weise klassisch bestimmt wird – zur damaligen Gesellschaft, und doch spüren wir häufig, wie aktuell das ist”.43

Der Text, wo Platon das Thema der Gerechtigkeit in den Staat einführt, ist der sog. Politeia. Was ist Gerechtigkeit? – fragt Sokrates vom Anfang an. Das Gerechte ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren – antwortet der Sophist. Somit wird die Gerechtigkeit auf seine instrumentale Funktion reduziert und in dem Bereich der gesellschaftlichen Konsensus gelegen. Allerdings ist das Problem Sokrates folgendes: Was ist Gerechtigkeit, welche nicht auf äußerliche Sachen bezogen ist, sondern auf die Tätigkeit der Seele schlechthin? Denn nur die Seele ist imstande, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, sonst, wenn wir die Gerechtigkeit aus der äußerlichen Perspektive der Nützlichkeit betrachten, umkehrt sich die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit: Die Ungerechtigkeit wird als Gerechtigkeit wahrgenommen, und die Gerechtigkeit als Ungerechtigkeit:

„The man who is perfectly unjust will be successful in everything, will attain the highest success in the community, will rule, will attain such riches, such distinguished posts, will marry his children into the best families, will realize all his aims and yet will always be focused only on his own, and in actuality does not care about community. The other will neither have peace nor success, and all the failures of the city will be blamed upon him. He will end up being accused and brought before justice. Because it is impossible that this man would not come into conflict with the community, he will necessarily be accused and will end up in horrible agony upon the cross. This is the comparison of the two. The man of perfect truth and justice has to necessarily perish in a community of this kind of opinion, were this kind of justice rules”.44

Was kann das Gegenteil von dieser Lage sein? Eine Untersuchung der Gerechtigkeit selbst. Da aber die Gerechtigkeit eine Tugend der Seele ist, muss die Untersuchung der Gerechtigkeit gleichzeitig eine Untersuchung der Seele sein. Wie bereits behauptet, ist die Gerechtigkeit keine individuelle Tugend, sondern hauptsächlich eine Tugend des kollektiven Lebens. Auf diese Weise kommt es aus der Untersuchung der Seele zur Untersuchung der Struktur des Staates – ein Staat, welcher in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit aufgebaut wird. So entsteht Platons Entwurf eines idealen Staates, dessen bloße Vorstellung eine korrektive Funktion haben sollte. Woraus besteht also das Fundament des gemeinschaftlichen Lebens? Es besteht in der Tatsache, dass kein Mensch die absolute Autarkie behaupten kann. Und die Gesellschaft hat umso mehr Erfolg, als jeder seine Aufgabe besser tut, das heißt den Zustand der Vortrefflichkeit (Aretḗ) zu erreichen. Dafür benötigen die Bürger eine fortwährende Bildung (Paideia): der Zweck der Bildung besteht darin, das Fundament seiner Existenz zu liefern, nämlich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, welche sich in einer verantwortlichen Praxis der Wahrheit verwirklicht. Was die Erziehung der Menschheit angeht, setzt Platon eine radikale Umdeutung des Mythos voraus und eine Transformation des Mythos in eine Religion der Moral. Aus diesen Gründen kann Patočka feststellen, dass die platonische Religion die erste rein moralische Religion ist.45

Die Zurückführung des Mythos auf eine reine Moralreligion steht ganz im Einklang mit dem notwendigen Aufstieg der Seele (beschrieben im Höhlengleichnis). Demgemäß, das, was die Seele charakterisiert, ist nichts anderes als ihre Bewegung aus dem Bereich der Doxa zur Episteme. In dem Maße, wie die Seele diesen Weg begeht, nimmt sie an der Ewigkeit teil. Und das Problem der Unsterblichkeit der Seele wird von nun an einfach an dieser internen Logik der Bewegung der Seele geknüpft und nicht mehr wie in dem mythischen Weltbild an etwas Äußerliches. Später haben diese beiden Aspekte – der Aufstieg der Seele und ihre Unsterblichkeit – die jüdischen Quellen des Christentums geprägt, sodass das Christentum eine universelle Dimension erlangt hat.46

§ 7. Schlussbetrachtung: die Solidarität der Erschütterten

Was ist aus diesem Gedankengang zu merken? Inwieweit begründet die Weltanschauung Platons das geschichtliche Projekt der europäischen Welt? Und inwieweit können uns diese Einsichten noch behilflich sein? Es ist sehr wichtig, sich zu erinnern, dass für Patočka erweist das Denken aus der Perspektive der Sorge für die Seele eine aufsteigende Struktur. Die Seele ist Offenheit sowohl für die Gegenstände als auch für die Ideen, und die Sorge der Seele zielt die Orientierung am Guten ab. Die platonische Politik bedeutet daher der Ausdruck des spirituellen Weges der Seele nach dem Einswerden mit dem absoluten Guten. Für Platon bildet das Abenteuer der Seele zunächst die Gemeinschaft, denn die politische Anspruch Platons besteht hauptsächlich in der Einrichtung einer Gemeinschaft, in der die Seele seine Selbstverwirklichung vollziehen kann. In dieser Hinsicht kann Patočka zu Recht behaupten, dass das zentrale Thema des platonischen Denkens – die Sorge für die Seele – die Geschichte Europas maßgeblich prägte, ja sogar gründete. Der Staat der Gerechtigkeit, gestaltet nach den philosophischen Ansprüchen der Sorge für die Seele, wo der Philosoph frei leben darf und nicht mehr sterben muss – all das ist das Erbe des Scheiterns der Polis. Dieser Erbe ist weiter in den Hellenismus übertragen worden, und von da an, über das Römische Reich und das Mittelalter bis hin zur Moderne.

Die Entstehung der Modernität ändert aber das Problem radikal: Das Denken neigt zum Objektivieren (welche zu einer Vergegenständlichung der Seele führt), und die Politik wird der Staatsräson untergeordnet. Welche ist nun, aus dem Blickwinkel der Staatsräson und der Technik, die Stelle und die Rolle des Philosophen? Da er sich für die Seele kümmert, der Denker ist wieder ein Fremder geworden. Laut Patočka ist die Langeweile das Sinnbild der Moderne: „Die Langeweile ist keine Nebensächlichkeit, keine bloße Stimmung oder private Befindlichkeit, sondern der ontologische Status einer Menschheit, die ihr gesamtes Leben der Alltäglichkeit und deren unpersönlichen Charakter untergeordnet hat”.47 Ihm zufolge hat der Mensch aufgehört der Bezug zum Sein zu sein und ist lediglich zu einer Kraft geworden. Das hat sich geschichtlich auch dadurch bewiesen, „dass die Verwandlung der Welt in ein Laboratorium, das über Milliarden von Jahren akkumulierte Energiereserven freisetzt, sich nur mittels Kriegs vollziehen kann”.48 In dieser Hinsicht spricht Patočka über das 20. Jahrhundert als Krieg überhaupt, oder wie Ernst Jünger, über eine totale Mobilmachung.49

Das Europa des 21. Jahrhunderts wurde wieder sowohl von Kriege durch militärisches Mittel betroffen als auch von wirtschaftlichen Ausbeutungen und systematischen Indoktrinierungen durch die Medien. Auch was die Stellung des Menschen in der Welt betrifft, ist es immer deutlicher, dass das moderne wissenschaftliche Weltbild immer mehr in die Richtung der Instrumentalisierung, bzw. Vergegenständlichung des Menschen geht. Daher können wir immer noch über eine „Solidarität der Erschütterten” sprechen, welche diese „Logik des Tages” ablehnt. Die Erschütterten des 21. Jahrhunderts sind diejenigen, die trotz aller Hindernisse des Zeitgeistes, sich um die Seele kümmern und keine Kompromisse mit der weltlichen Macht machen wollen. Es sind die wenigen Menschen, die immer noch nach Authentizität und Freiheit streben.

Patočkas Analyse des fundamentalen Begriffs der „Sorge für die Seele”, lässt uns sowohl das geistige Patrimonium Europas wieder gewinnen als auch die Gründe der geistigen Krisen Europas einsehen. Abschließend können wir behaupten, dass Patočkas Aufforderung zu der Sorge für die Seele eine notwendige Herausforderung darstellt, die eigene Verantwortung für unseres gemeinsames Schicksal zu übernehmen, um ein gerechtes und freies Leben zu ermöglichen. Denn nur wenn wir wahrhaft nach Authentizität und Wahrheit streben, können wir die geistige Krise Europas überwinden und dem Verfall der Seele entgegenwirken.

Dan Siserman


  1. Jan Patočka, Plato and Europe, translated from Czech by Petr Lom, Stanford University Press, Stanford, California, 2002. ↩︎
  2. Jan Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Aus dem Tschechischen von Sandra Lehmann. Shurkamp Verlag, Berlin, 2010. ↩︎
  3. Jan Patočka, Plato and Europe, S.6. ↩︎
  4. Ebd., S.9. ↩︎
  5. Ebd., S.1. ↩︎
  6. Ebd., S.10. ↩︎
  7. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I: Der Zauber Platons, übersetzt von P. K. Feyerabend, Frencke Verlag, München, 1957, S.5-10. ↩︎
  8. Denis de Rougemont, L`aventure occidentale de l`homme, Editions Albin Michel, Paris, 1957, S.161-183. ↩︎
  9. Constantin Noica, De dignitate Europae, übersetzt von Georg Scherg, herausgegeben von Mădălina Diaconu, Traugott Bautz, Nordhausen, 2012, S.40. ↩︎
  10. Jan Patočka, Plato and Europe, S.50. ↩︎
  11. Filip Karfik, „Jan Patočkas Philosophie der Geschichte”, in Matthias Gatzemeier (Hg.): Jan Patocka. Ästhetik, Phänomenologie, Pädagogik, Geschichts- und Politiktheorie; Ergebnisse eines Kolloquiums, Alano Verlag, Aachen, 1994. S.38-50. ↩︎
  12. Ebd., S. 43, ↩︎
  13. Ebd., S. 43. ↩︎
  14. Ebd., S. 44. ↩︎
  15. Jan Patočka, Ketzerische Essays, S.32. ↩︎
  16. Domenico Jervolino, „Patočka: Negative Platonismus und die Idee Europa”, in: Cheung, Chan-Fai, Ivan Chvatik, Ion Copoeru et elii, Essays in Celebration of the Founding of the Organization of Phenomenological Organizations, 2003, S.4. ↩︎
  17. Filip Karfik, „Jan Patočkas Philosophie der Geschichte”, S.42. ↩︎
  18. Jan Patočka, Ketzerische Essays, S.50. ↩︎
  19. Ebd., S. 50. ↩︎
  20. Ebd., S. 51. ↩︎
  21. Ebd., S. 35. ↩︎
  22. Ebd., S. 53. ↩︎
  23. Filip Karfik, „Jan Patočkas Philosophie der Geschichte”, S.45. ↩︎
  24. Jan Patočka, Ketzerische Essays, S.60. ↩︎
  25. Ovidiu Stanciu, „Pour une délimitation du champ historique. Patocka et la question d’un régime libre du sens”, in: Alter. Revue de Phénoménologie, no. 25/ 2017, S.155-171. ↩︎
  26. Jan Patočka, Plato and Europe, S.73. ↩︎
  27. Ebd., S.81. ↩︎
  28. Ebd., S.85. ↩︎
  29. Ebd., S.86. ↩︎
  30. Ebd., S.88. ↩︎
  31. Jan Patočka, „Der geistige Mensch und der Intellektuelle”, in Ludger Hagedorn und Hans Reiner Sepp (Hrsg.) Jan Patocka, Texte, Dokumente, Bibliographie, Karl Albert Verlag, Freiburg/München, S.110. ↩︎
  32. Jan Patočka, Plato and Europe, S.89. ↩︎
  33. Ebd., S.90. ↩︎
  34. Ebd., S.93. ↩︎
  35. Ebd., S.97. ↩︎
  36. Ebd., S.102. ↩︎
  37. Ebd., S.183-184. ↩︎
  38. Ebd., S.186. ↩︎
  39. Jan Patočka, Ketzerischen Essays, S.125. ↩︎
  40. Jan Patočka, Plato and Europe, S.104. ↩︎
  41. Ebd., S.107. ↩︎
  42. Ebd., S. 111. ↩︎
  43. Jan Patočka, „Der geistige Mensch und der Intellektuelle”, S.111. ↩︎
  44. Jan Patočka, Plato and Europe, S.114. ↩︎
  45. Ebd., S.122. ↩︎
  46. Eine detaillierte Analyse der Bedeutung des Christentums für Patočka findet sich in der folgenden Studie: Eddo Evink, „The Gift of Life: Jan Patočka and the Christian Heritage”, in Ludger Hagedorn, James Dodd (Hgs.), The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy, XIV – 2015, Religion, War and the Crisis of Modernity. A Special Issue Dedicated to the Philosophy of Jan Patočka, Routladge, New York, 2015, S.47-63. ↩︎
  47. Jan Patočka, Katzerische Essays, S.134. ↩︎
  48. Ebd., S. 146. ↩︎
  49. Siehe auch Ovidiu Stanciu, „La Grande Guerre comme «événement cosmique». Jan Patočka et l’expérience du front”, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger, 2018/4 Tome 143, S.507-524. ↩︎

Literaturverzeichnis

  • Jervolino, Domenico, „Patočka: Negative Platonismus und die Idee Europa”, in: Cheung, Chan-Fai, Ivan Chvatik, Ion Copoeru et elii, Essays in Celebration of the Founding of the Organization of Phenomenological Organizations, 2003published online at: http://www.ipjp.org/
  • Karfik, Filip, „Jan Patočkas Philosophie der Geschichte”. in: M. Gatzemeier, (ed.), Jan Patočka: Ästhetik-Phänomenologie-Pädagogik-Geschichts- und Politiktheorie, Alano Verlag-Rader Publikationen, Aachen, 1994, pp. 38-49.
  • Noica, Constantin, De dignitate Europae, übersetzt von Georg Scherg, herausgegeben von Mădălina Diaconu, Traugott Bautz, Nordhausen, 2012.
  • Popper, Karl, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I: Der Zauber Platons, übersetzt von P. K. Feyerabend,: Frencke Verlag, München, 1957.
  • Patočka, Jan, „Der geistige Mensch und der Intellektuelle”, in: Ders., Texte, Dokumente, Bibliographie. Hrsg. von Ludger Hagedorn und Hans Reiner Sepp, Karl Alber Verlag, Freiburg-München, 1999, S. 103-123.
  • Patočka, Jan, Plato and Europe, translated by Petr Lom, Stanford University Press, Stanford, California 2002.
  • Patočka, Jan, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte.,übersetzt von Sandra Lehmann, Shurkamp Verlag, Berlin, 2010.
  • Rougemont, Denis de, L`aventure occidentale de l`homme, Editions Albin Michel, Paris, 1957.
  • Stanciu, Ovidiu, „Pour une délimitation du champ historique. Patocka et la question d’un régime libre du sens”, in: Alter. Revue de Phénoménologie, no. 25/ 2017, S.155-171.
  • Stanciu, Ovidiu, „La Grande Guerre comme «événement cosmique». Jan Patočka et l’expérience du front”, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger, 2018/4 Tome 143, S.507-524.

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